Thema

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass sich das Vorlesen bei (Vor-)Schulkindern positiv auf deren Sprachentwicklung auswirkt (vgl. z. B. Whitehurst et al. 1988; Arnold et al. 1994; Gressnich et al. 2015). So kann das Vorlesen von Kinderbüchern den Ausbau des kindlichen Wortschatzes fördern (vgl. z. B. Blewitt 2014) sowie die Weiterentwicklung der narrativen (vgl. z. B. Lever & Sénéchal 2011) und grammatischen Fähigkeiten (vgl. z. B. von Lehmden et al. 2013; Stark 2016) anregen. Neben der Sprachentwicklung wirkt sich Vorlesen auch förderlich auf die literarischen Fähigkeiten von (Vor-)Schulkindern aus (vgl. z. B. Gressnich et al. 2015).

Im Fokus bisheriger Studien standen zumeist weniger die Eigenschaften der jeweils vorgelesenen Texte, sondern vor allem das Vorlesen als Format und die Frage, wie dieses Format ausgestaltet sein muss, damit es die sprachliche/literarische Entwicklung von Kindern tatsächlich fördert. Meibauer (2011, 2017) verschiebt diesen Fokus und fragt vor allem danach, wie kinderliterarische Texte sprachlich zu charakterisieren sind und welche Rolle sie für den Spracherwerb spielen. Er stellt die These auf, dass Kinderliteratur (KL) einen spezifischen Input für den Spracherwerb darstellt. Insbesondere sei KL „eine Literatur …, die systematisch auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt“ (Meibauer 2011: 11).

Die meisten der Studien zum Einfluss des Vorlesens (von KL) auf die sprachliche/ literarische Entwicklung haben diesen an Kindern im Kindergarten- bzw. frühen Grundschulalter (2 bis 7 Jahre) untersucht. Weitestgehend unklar ist, ob das Vorlesen oder auch Selbstlesen von KL ab dem Alter von 7 Jahren sich ähnlich positiv auf den weiterführenden Spracherwerb auswirken. Betrachtet man diesen weiterführenden Spracherwerb, so sind es vor allem pragmatische Phänomene, die hier eine (teils langandauernde) Rolle spielen, also Metaphern (vgl. z. B. Vogt und Indefrey 2017), Metonymien (Rundblad und Annaz 2010), Phraseme (vgl. z. B. Cacciari und Levorato 1989), Ironie (Hoicka 2014; Filippova 2014), bestimmte Formen des Humors (vgl. McGhee 1979, 1989), (skalare) Implikaturen (vgl. u a. Pouscoulous 2007), u. v. m.

Was den Zusammenhang von sprachlichen Eigenschaften der KL und Erwerb oben genannter (und weiterer) pragmatischer Phänomene angeht, liegen bisher kaum Untersuchungen vor (vgl. aber Kümmerling-Meibauer und Meibauer 2011 zu Lügen und dieselben 2015 zur Rede-wiedergabe sowie Finkbeiner 2011 zu Phrasemen). Auch über mögliche positive Effekte des Vorlesens von KL auf den Erwerb dieser Phänomene bei Kindern ab 6/7 Jahren gibt es bisher keine Erkenntnisse. Dabei haben womöglich sowohl die Rezeptionssituation als auch die (selbst- oder vor-) gelesenen kinderliterarischen Texte das Potenzial, den Pragmatikerwerb zu fördern (vgl. die Unterscheidung von „internal“ und „external pragmatics“ in Meibauer 2017).

Der Workshop möchte sich dieser Forschungslücke annehmen und den Zusammenhang von Kinderliteratur und dem Erwerb pragmatischer Phänomene in den Blick nehmen. Dabei sollen folgende (und ähnliche) Fragen im Vordergrund stehen.

  • Stellt KL einen spezifischen Input für den weiterführenden – insbesondere pragmatischen – Spracherwerb im Selbstlesealter dar?
    • Woran erkennt man das? Was sind die sprachlichen Eigenschaften, die KL als spezifischen Input für den weiterführenden Spracherwerb kennzeichnen?
  • Kann KL „an sich“ den Erwerb pragmatischer Phänomene unterstützen?
  • Kann das Vorlesen von KL (in der Schule und/oder im Hort und/oder in der Familie) den Erwerb pragmatischer Phänomene unterstützen?
  • Muss die „Vorlesesituation“ bestimmte Eigenschaften haben, damit sie den Erwerb dieser Phänomene unterstützt?

 

Literatur

Arnold, David H., Lonigan, Christopher J., Whitehurst, Grover J., & Epstein, Jeffery N. (1994): Accelerating language development through picture book reading: Replication and extension to a videotape training format. Journal of Educational Psychology 86 (2), S. 235-243.

Blewitt, Pamela (2014): Growing vocabulary in the context of shared book reading. In: Kümmerling-Meibauer, Bettina, Jörg Meibauer, Kerstin Nachtigäller & Katharina Rohlfing (Hgg.): Learning from Picturebooks. Perspectives from child development and literacy studies. S. 117-136. London: Routledge.

Börjesson, Kristin (2014): The Semantics-Pragmatics Controversy. Berlin: De Gruyter.

Cacciari, Cristina & Maria Chiara Levorato (1989): How children understand idioms in discourse. Journal of Child Language 16, S. 387-405.

Filippova, Eva (2014): Irony production and comprehension. In: Matthews, Danielle (Hg.) Pragmatic Development in First Language Acquisition. S. 216-278. Amsterdam: John Benjamins.

Finkbeiner, Rita (2011): Phraseologieerwerb und Kinderliteratur. Verfahren der Verständlich-machung von Phraseologismen im Kinder- und Jugendbuch am Beispiel von Otfried Preußlers Die kleine Hexe und Krabat. LiLi 162, S. 47-73.

Gressnich, Eva, und Claudia Müller, Linda Stark (2015): Lernen durch Vorlesen: Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag.

Hoicka, Elena (2014): The pragmatic development of humor. In: Matthews, Danielle (Hg.) Pragmatic Development in First Language Acquisition. S. 219-237. Amsterdam: John Benjamins.

Kümmerling-Meibauer, Bettina und Jörg Meibauer (2011): Lügenerwerb und Geschichten vom Lügen. LiLi 162, S. 118-138.

Kümmerling-Meibauer, Bettina und Jörg Meibauer (2015): Vorlese-Input und Redewiedergabe. In: Gressnich, Eva, Claudia Müller & Linda Stark (Hgg.): Lernen durch Vorlesen. S. 15-33. Tübingen: Narr Francke Attempto.

Lever, Rosemary and Monique Sénéchal (2011): Discussing stories: On how a dialogic reading intervention improves kindergartners’ oral narrative construction. Journal of Experimental Child Psychology 108 (1), 1-24.

McGhee, Paul E. (1979): Humor: Its Origin and Development. San Francisco: Freeman and Company.

McGhee, Paul E. (1989): Humor and children’s development. NY and London: The Haworth Press.

Meibauer, Jörg (2011): Spracherwerb und Kinderliteratur. LiLi 162, S. 11-28.

Meibauer, Jörg (2017): Pragmatics and children’s literature. In: Giora, Rachel und Haugh, Michael (Hgg.): Doing Intercultural Pragmatics: Cognitive, Linguistic and Sociopragmatic Perspectives on Language Use. S. 371-387. Berlin: Mouton De Gruyter.

Rundblad, Gabriella und Dagmara Annaz (2010): Development of metaphor and metonymy comprehension. Receptive vocabulary and conceptual knowledge. Developmental Psychology 28 (3), S. 547-563.

Stark, Linda (2016): Vorlesen und Präteritum. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Vogt, Swetlana und Peter Indefrey (2017): Metaphernerwerb: eine empirische Studie bei Kindern im Alter von sechs bis vierzehn Jahren. Metaphorik.de 27.

von Lehmden, Friedericke, Johanna Kauffeldt, Eva Belke und Katharina Rohlfing (2013): Das Vorlesen von Kinderbüchern als implizites Mittel zur Sprachförderung im Bereich Grammatik. Praxis Sprache 58, S. 18-27.

Whitehurst, G.J. und L. F. Falco, Lonigan, J. C. & Fischel, Janet & Debaryshe, Barbara & Valdez-Menchaca, C. M. & Caulfield, Marie (1988): Accelerating language development through picture book reading. Developmental Psychology 24 (4), S. 552-558.